Oft braucht es den richtigen Moment, damit eine Sache zum allgemeinen Skandal wird
Es war schon vor 2010 bekannt, dass in der katholischen Kirche Geistliche Minderjährigen sexualisierte Gewalt antun. Immer wieder wurden Geschichten öffentlich, wer heute sagt, man hätte damals nichts ahnen können, verdrängt etwas oder lügt sich in die Tasche. So, wie der damalige Mainzer Bischof und Bischofskonferenzvorsitzende, der, als 2002 die Enthüllungen des Boston Globe in den Vereinigten Staaten das Ausmaß der Gewalt offenbarten, sagte, den „amerikanischen Schuh“ bräuchte sich die katholische Kirche nicht anziehen. Es brauchte acht Jahre später den Mut der ehemaligen Schüler des Berliner Canisius-Kollegs und auch den des damaligen Schulleiters Klaus Mertes, um in Deutschland den Schneeball zur Lawine werden zu lassen, die die katholische Kirche bis heute erschüttert – und zum Glück nicht nur sie.
Die Kinder und Jugendlichen von damals gingen an die Öffentlichkeit – einstige Internatszöglinge aus der Benediktinerabtei Ettal und ehemalige Sänger der Regensburger Domspatzen, dann aber auch Schüler der reformpädagogischen Odenwaldschule oder Kinder aus der evangelischen Gemeinde in Ahrensburg. Viele von ihnen hatten übe Jahrzehnte hinweg geschwiegen. Jetzt hörten sie zum ersten Mal den Satz: Wir glauben ihnen. Sie und die Medien, die über ihre Geschichten berichteten, mussten sich immer noch Beschimpfungen und Verdächtigungen anhören. Aber der Damm war gebrochen. Das so lange Verdrängte war sagbar und skandalisierbar geworden.
Acht weitere Jahre dauerte es, bis im Herbst 2018 ein Konsortium von Forscherinnen und Forschern aus Mannheim, Heidelberg und Gießen ihren Bericht über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche vorlegte: 1670 Kleriker wurden den kirchlichen Personalakten zufolge zwischen 1946 und 2014 des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt; niemand weiß, wie viele Vorwürfe nie aktenkundig wurden, wie viele Akten mit Vorwürfen verschwanden. Die sogenannte MHG-Studie identifizierte 3677 mutmaßliche Betroffene – auch hier bei einer hohen Dunkelziffer. Weithin wurden die Verbrechen vertuscht oder nur milde bestraft, wurden Täter einfach in die nächste Gemeinde versetzt oder ins Ausland, wo sie dem Zugriff der deutschen Staatsanwaltschaft entzogen waren. Verdächtige wurden nicht angezeigt, kirchliche Strafverfahren nicht angezeigt. Dazu trugen, so legten die Forscherinnen du Forscher nahe, auch die Strukturen der katholischen Kirche bei: ihre Heiligung der Institution, deren Reinheit bewahrt werden musste, die zölibatäre Lebensweise der Kleriker, ihr Klerikalismus, der die Bundesbrüder schützte und die Betroffenen der Gewalt ein weites Mal zum Opfer machte.
Es hat sich einiges geändert, verbessert in diesen mittlerweile elf Jahren, seit der Missbrauch zum öffentlichen Skandal wurde. Es sind zunächst einmal die Betroffenen selbstbewusst geworden, Frauen wie Männer. Sie haben sich vernetzt, zusammengeschlossen, sind handlungsfähiges Gegenüber der Kirchenleitungen und des Staates geworden, haben staatlicherseits mit dem unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) einen Ombudsmann (derzeit), der ihre Anliegen in die Politik hineinträgt – mit wechselndem Erfolg, aber immerhin. Die Betroffenen kostet dieses Engagement viel Kraft und Überwindung, für manche bedeutet es eine Retraumatisierung. Umso höher ist ihr Beitrag für eine menschliche und zivile Gesellschaft zu schätzen, für einen Staat, der die Schwachen schützt.
Es hat sich zudem ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass sexualisierte Gewalt nicht nur ein Thema der katholischen Kirche ist. Es gibt ihn in der evangelischen Kirche und in reformpädagogischen Einrichtungen – wo oft die totale Enttabuisierung von Sexualität zu Gewalt und ihrer Vertuschung führt. Es gibt ihn im Sport, wo Trainer ihre absolute Gewalt missbrauchen und auf Campingplätzen wie dem im nordrhein-westfälische Lügte, wo angebliche Kinderfreunde über Jahre ihr Unwesen treiben und Kinderpornos drehen konnten. In den Familien sowieso, manchmal unter den Augen hilfloser oder unfähiger Jugendämter. Und es hat sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Missbrauch nicht nur über körperlich-sexuelle Gewalt stattfindet, sondern auch, wenn Mächtige ihre geistige, geistliche Macht ausnutzen, um Menschen von sich abhängig zu machen.
Es sind in den Institutionen Prävention und Aufklärung besser geworden, es gibt in Schulen und Kirchen Schutzkonzepte, sie können die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht abschaffen, aber sehr wohl helfen, dass die Verantwortlichen hinsehen und eingreifen, wenn etwas passiert. Es ist den Kirchen klar geworden, dass an Aufklärung und Aufarbeitung kein Weg vorbeiführt, der evangelischen nach anfänglichem Zögern, der katholischen Kirche, die von einer Austrittswelle gebeutelt wird, sehr deutlich. In vielen Bistümern untersuchen unabhängige Rechtsanwaltskanzleien oder Kommissionen das Handeln oder Vertuschen der Bistumsleitungen bei Missbrauchsfällen, decken die strukturellen Versäumnisse auf. Auf einem „Synodalen Weg“ diskutieren Bischöfe und Vertreterinnen und Vertreter des Kirchenvolkes, welche Konsequenzen der Missbrauchsskandal für die katholische Sexualmoral, die kirchlichen Machtstrukturen, das Weiheverbot für Frauen und die Lebensweise der Priester haben sollte.
Und doch ist vieles unerledigt. Die katholischen Bischöfe haben ein Verfahren zur Anerkennung des erlittenen Leides installiert, dass viele Betroffene als ungerecht, undurchsichtig und retraumatisierend erfahren; in der evangelischen Kirche fehlen in diesem Bereich noch immer allgemeinverbindliche Regeln. Die Rolle der Betroffenenbeiräte bleibt bi beiden Kirchen unklar: Sind die Mitglieder Beraterinnen und Berater, die den Kirchen aus der Patsche helfen sollen, oder Anwältinnen und Anwälte der Betroffenen? Und noch immer tun sich die katholische und auch die evangelische Kirche mit dem institutionellen Lernen schwer: Wo müssen wir uns grundsätzlich ändern, damit es aufhört? Im katholischen Erzbistum Köln hält der dortige Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, ein Gutachten unter Verschluss, das genau diese Fragen stellt. Ein zweites, alternativ in Auftrag gegebenes Gutachten belastet den Hamburger Erzbischof Stefan Heße schwer – doch Papst Franziskus hat entschieden, dass Heße im Amt bleiben darf. Und auch den Beratungen des Synodalen Weges hat der Papst enge Grenzen gesetzt: Die Delegierten sollen übe nichts abstimmen, was aus seiner Sicht nur weltkirchlich entschieden werden kann – die Frauenweihe, den Zölibat, die Sexualmoral.
Auch deshalb gewinnt die Forderung an Gewicht dass Aufklärung und Aufarbeitung in die Hand des Staates gehören. Die kirchliche Selbstaufklärung hat offensichtlich ihre Grenzen.
Copyright Matthias Drobinski
