Nach 35 Jahren wurde das Leid begraben

Als ich vor einigen Jahren mit einem SVP-Politiker über die Wiedergutmachungs-Frage gesprochen habe, sagte dieser: “Wissen Sie, ich war immer dagegen. Ich fand, man solle die Vergangenheit ruhen lassen. Doch als Guido Fluri auf mich zugekommen ist, habe ich meine Meinung geändert. Er hat mich überzeugt.” Fluri, ein Selfmade-Unternehmer aus dem Kanton Zug, dessen erstes Taschengeld der Grundstein für ein Immobilienimperium bildete, wurde zu einer der einflussreichsten Personen in der schweizerischen Politik. Ohne ihn wären die vielen Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen nicht gehört worden, hätten keine Hilfe bekommen, niemand hätte sich bei ihnen entschuldigt.

Bis zu Beginn der Achtzigerjahre kam es in Tausenden von Fällen vor, dass die Behörden ledigen Müttern die Kinder wegnahmen, dass Kinder ins Heim, als billige Arbeitskraft zu einer Familie oder auf Bauernhöfe kamen, dass Arbeitslose und Suchtkranke in Anstalten versorgt, zur Arbeit gezwungen und misshandelt wurden. Dass Personen, von denen die Behörden fanden, dass sie sich nicht fortpflanzen sollten, zwangssterilisiert wurden. Und so weiter. Das Gesetz rechtfertigte fast alles unter dem Titel “fürsorgerische Zwangsmassnahmen”. Rechtsmittel hatten die Betroffenen nicht.

1999, knapp 20 Jahre nach Aufhebung der Gesetze, welche diese Zwangsmassnahmen gerechtfertigt hatten, findet sich in der Parlamentsdatenbank erstmals die Forderung nach Aufarbeitung. Sie versandete, wie viele weitere Vorstösse, die in den kommenden Jahren zu dem Thema eingereicht wurden. Meistens von SP- oder Grüne-Vertreterinnen und -vertretern. Die grössere bürgerliche Ratshälfte aus SVP, FDP und einem Teil der CVP war stets dagegen. Der Bundesrat reagierte zögerlich, ermunterte die Geschichtsforscher, sich des Themas anzunehmen. Doch ein Anerkennen von Schuld, eine vom Bund initiierte und finanzierte historische Aufarbeitung sowie finanzielle Hilfe für Betroffene, die im Alter oft unter psychischen Problemen, Armut und Vereinsamung litten – dazu konnte sich die Politik nicht durchringen.

Doch irgendwann kehrte der Wind. Ab 2010 erhöhte sich der politische Druck, Guido Fluri begann sich politisch zu engagieren. Und als Bundesrätin Simonetta Sommaruga sich 2013 im Namen des Gesamtbundesrats bei den Opfern entschuldigte, war das ein Meilenstein. “Ich bitte Sie von ganzem Herzen um Entschuldigung”, sagte die damalige Justizministerin an einem Gedenkanlass in Bern. Es fühlte sich an wie ein Durchbruch.

Doch den Betroffenen, die mit Guido Fluri jetzt in Bern eine Stimme hatten, genügte das nicht. Es waren nur Worte, es waren keine Taten. Und der Schmerz sass tief. Wer in jungen Jahren misshandelt worden war, fühlte sich Jahrzehnte später noch immer entehrt, beschmutzt, zum Bürger zweiter Klasse gestempelt. “Wenn jemand so behandelt wird, dann wird das wohl einen Grund haben” – so das Denken der vergangenen Jahrzehnte, das noch immer nachzuwirken schien, bis ins neue Jahrtausend hinein.

2013 lancierten Fluri und sein Team die Wiedergutmachungs-Initiative. Sie forderte wissenschaftliche Aufarbeitung und einen Fonds über 500 Millionen Franken für Wiedergutmachung an die Opfer. Die Unterschriften waren in wenigen Monaten beisammen, Medien berichteten erstmals anhaltend und ausführlich über die Folgen der damaligen Behördenfreiheit. Historikerinnen und Zeitzeugen kamen zu Wort, Medien porträtierten Menschen, die als Kinder und Jugendliche Unglaubliches erlitten hatten. Nicht selten meldeten sich daraufhin zahlreiche weitere Personen, manche weinten am Telefon. Eine betagte Frau, die sich beim “Tages-Anzeiger” meldete und die als misshandeltes und missbrauchtes Verdingkind eine qualvolle Zeit durchgemacht hatte, sagte, sie habe zeitlebens nie mit jemandem über ihre Erlebnisse sprechen können. Nicht einmal ihrem Mann hatte sie sich offenbart.

Jetzt getrauten sie sich zu reden, und im Bundeshaus besannen sich manche um. Auch der eingangs erwähnte SVP-Politiker. Nach drei Jahren Debatte und Lobbyarbeit im Bundeshaus wurden Geduld und Hartnäckigkeit belohnt. Es war 2016, drei Jahre nach der Lancierung der Volksinitiative, als National- und Ständerat mit grossen Mehrheiten einem direkten Gegenvorschlag zustimmten. Dieser war der Volksinitiative sehr ähnlich: Aufarbeitung und finanzielle Unterstützung für die Opfer, bis zu 25 000 Franken pro Person. Der Gegenvorschlag beinhaltete aber keinen Staatsfonds. Das “Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981” hatte gegenüber der Initiative den Vorteil, dass es unbürokratischer und schneller umgesetzt werden konnte, was den betagten Opfern entgegenkam. Im April sagte der Nationalrat Ja, im September der Ständerat – mit dem sensationellen Resultat von nur einer Gegenstimme.

Im Vorzimmer des Ständerats flossen Tränen. Betroffene und ihre Mitkämpfer fielen sich in die Arme. “Jetzt können wir das Leid begraben”, sagte ein Ständerat. Wenige Monate später trat das Gesetz in Kraft, bald wurden erste Solidaritätsbeiträge wurden ausbezahlt. Gut 10 000 Personen haben sich beim Bund gemeldet. Historikerinnen und Historiker gingen von mehr Opfern aus, die sich melden könnten. Sind es tatsächlich weniger, leben sie nicht mehr, wollen sie nichts mehr mit Behörden zu tun haben oder wollen sie kein Geld von dem Staat, der ihnen einst böse gewollt hat? Manche Dinge lassen sich nicht klären.

Copyright Claudia Blumer