„Weil ich immer geglaubt habe, wir sind schuld…“ –  Missbrauch in Österreichischen Kinderheimen

Im Frühjahr 2010 wurde nach Bekanntwerden von Gewalt- und Missbrauchsvorwürfen in Kinderheimen der katholischen Kirche eine unabhängige Opferschutzkommission und Opferschutzanwaltschaft eingerichtet. Sie hatte die Aufarbeitung von Gewalt- und Missbrauchsfällen im Rahmen der Katholischen Kirche in Österreich zum Ziel. Damit kam der Stein ins Rollen, immer mehr Betroffene wandten sich an Behörden und Medien und machten ihre leidvollen Kindheits- und Jugenderfahrungen öffentlich. Das was diese Menschen im Rahmen ihres Heimaufenthaltes an Gewalt erlebt hatten, übersteigt das Maß des Vorstellbaren. Angesichts dessen sahen sich nicht nur katholische Kirche, sondern auch die Bundesländer und einzelne Gemeinden, der Bund, die evangelische Kirche A. und HB. sowie die Diakonie als ehemalige Heimträger gefordert. Sie mussten sich mit dem Vorwurf, ihrem rechtlichen Auftrag „Schutz des Kindeswohls“ zuwider gehandelt zu haben, auseinandersetzen. Rasch wurde deutlich, dass die veröffentlichten Vorwürfe nur die Spitze des Eisberges ausmachten. Zu erwarten war – was sich letztlich auch bestätigen sollte – eine hohe Dunkelziffer sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Täter*innen. Parallel dazu wurden wissenschaftliche Kommissionen damit beauftragt, die Missbrauchserfahrungen zu untersuchen und den Betroffenen eine Stimme zu geben.

Ehemalige Heimkinder forderten psychotherapeutische Betreuung und finanzielle Entschädigung. Bald zeigte sich, dass auch viele Kinder, die in Pflegefamilien der Jugendfürsorge untergebracht waren, unter katastrophalen Lebensbedingungen aufwachsen mussten. Daher wurde diese Personengruppe in den Kreis der Anspruchsberechtigten integriert.

Die Betroffenen, die sich an unabhängige Opferschutzeinrichtungen, wie den WEISSEN RING oder die Kinder- und Jugendanwaltschaften wandten, waren in ihrer Kindheit und Jugend zumeist multiplen Formen von Gewalt ausgesetzt und leiden bis heute darunter. Jahrzehntelang hatten sie mit negativen, häufig traumatisierenden Erfahrungen und psychischen Belastungen zu kämpfen. Das Aufwachsen in einem sadistischen Umfeld und gewalttätigen Klima sowie der Missbrauch von Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnissen in Institutionen und familiären Kontexten von Pflegefamilien haben ihre psychosozialen Entwicklungsmöglichkeiten erheblich beschränkt bzw. beeinträchtigt, mitunter sogar nachhaltig zerstört. Psychische Verletzungen, psychosoziale und sozio-ökonomische Konsequenzen und körperliche Narben sind die lebenslangen Folgen, ausgelöst durch psychische, physische, soziale, materielle und sexuelle Gewalterfahrungen, die sich auf den diversen Ebenen im Leben der Betroffenen manifestieren. Ein Betroffener bringt dies auf den Punkt: „Nicht nur, dass ich all das erleben durfte, kämpfe ich heute noch, und das nicht nur in einem oder zwei Bereichen meines Lebens, sondern in fast allen mit meinen inneren Dämonen.“

Für viele der Betroffenen nahmen diese Leiden bereits in ganz jungen Jahren, mitunter nach der Geburt, ihren Anfang: Mehrheitlich aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen stammend, wurden sie aufgrund von behördlich konstatierter „Verwahrlosung“ oder allein aufgrund unehelicher Geburt in „Fremdunterbringung“ – so der zeitgenössische Terminus – überstellt. Viele der ehemaligen Heim- und Pflegekinder hatten jahrzehntelang keine Kenntnis über die Gründe ihres Aufenthalts in Heim und /oder bei Pflegefamilien. Die Trennung von Eltern und Geschwistern fand als Moment psychischer Destabilisierung keinerlei Berücksichtigung. Viele der Betroffenen waren somit aufgrund von Ungewissheiten über die Herkunftsfamilie mit Fragen der Zugehörigkeit, des Fremdseins, mit Vorurteilen sowie der Erfahrung anders zu sein bzw. gemacht worden zu sein, konfrontiert. Fehlende Kontinuität der Bezugspersonen sowie häufige Pflegestellen- und Heimwechsel erschwerten den Aufbau stabiler Bindungen. Rückführungen in die Herkunftsfamilie wurden weder forciert noch angedacht.
Häufig erzählten ehemalige Heimkinder erstmals im Rahmen der Beratungs- und Clearinggespräche mit Mitarbeiter*innen der Opferschutzeinrichtungen über ihre von Gewalt und Missbrauch geprägte Zeit im Heim. Dem „Zuhören und Ernstgenommenwerden“ wurde von Betroffenen ein besonders hoher Stellenwert beigemessen, denn – so ein Betroffener – „es kann niemand ermessen, wie es einem nach jahrelanger „Gefangenschaft“ und Ausgeliefertsein geht.“

In der Ambivalenz zwischen „Erzähldrang“ versus „Amnesie“ gestaltete sich die Notwendigkeit möglichst umfassender und detailreicher Erzählung zu einer vielfach psychischen Herausforderung für die Betroffenen: Was damals geschehen ist, sei „oft mit Worten nicht zu sagen.“ Der Kreislauf des Gebots zu Schweigen und des Verschweigens aus Scham wurde oft jahrzehntelang fortgesetzt. Psychische Mechanismen wie Verdrängen, Abspaltung und Anpassung als Strategien der Bewältigung blieben oft ein ganzes Leben lang wirksam. Die psychischen Wunden als lebenslange Folgen von Missbrauch und Gewalt blieben somit lange Jahre nur in der inneren Realität der Betroffenen existent, allerdings mit nachhaltigen Folgewirkungen für die äußere Realität. Die Auseinandersetzung mit der einst erlittenen Gewalt stellt daher für viele ehemalige Heimkinder eine neuerliche psychische Belastung dar. Sie ist jedoch auch als Versuch das Schweigen zu brechen anzusehen sowie als ein mutiger Schritt zur Bewältigung: „Ich habe nichts zu verheimlichen, ich meine es ist die Wahrheit. (…) ich meine, man hat ja eh jahrelang geschwiegen, und ich bin mir keiner Schuld bewusst. Vielleicht habe ich das jahrelang herumgetragen, weil ich immer geglaubt habe, wir sind schuld, aber wir sind nicht schuld“, so die Erzählung eines Betroffenen.

Die erlebte Gewalt und die damit einhergehende Traumatisierung hatte in vielen Fällen Auswirkungen auf den ganzen weiteren Lebenslauf – sowohl was die beruflichen Möglichkeiten anging als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Jahrzehntelang wurden ihre Leiden weder anerkannt noch der Artikulation ihrer Erfahrungen Raum geboten. Die Anerkennung als Opfer erfolgte für diese spezifische Opfergruppe vielfach erst in fortgeschrittenem Lebensalter. Für manche von Ihnen kam dieser Schritt jedoch zu spät.

Die 2017 eingeführte Heimopferrente dürfte für viele Heimopfer zu einer finanziellen und damit verbundenen sozialen und psychischen Entlastung führen. Im Juli 2018 wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten um Kinder und Jugendliche, die in Krankenanstalten oder psychiatrischen Einrichtungen Gewalt oder Missbrauch erfahren haben, erweitert.
Aus den Erfahrungen ehemaliger Heimkinder wurde ersichtlich, dass der Kontroll- und Schutzauftrag von den verantwortlichen Institutionen damals massiv vernachlässigt wurde. Auf Empfehlung der „Wiener Heimkommission“ 1971 erfolgte zwar in Wien eine erste Liberalisierung der Heimunterbringung von Kindern und Jugendlichen. Mehrheitlich wurden die Heimbetriebe weiterhin als „totale Institution“ geführt. Nachfolgende Reformen der Kinder- und Jugendhilfe brachten zwar wesentliche Verbesserungen für die Zukunft, allerdings keine Hilfe für die bereits Geschädigten.